
Unsere Gefühle und Emotionen sind eine der wichtigsten Ressourcen in unserem Leben. Mit Gefühl zu leben bedeutet, das gesamte Repertoire des Menschseins in unseren Entwicklungsprozess einzuladen. Gefühle können Kompass sein, Heilungsweg zur Traumaintegration, Signal, Handlungsaufruf – und Wachstumsweg.
Während Emotionen oft kurzfristige, komplexe Reaktionen beschreiben, die Geist, Körper und unsere Verhaltensimpulse gleichermaßen „mitnehmen“, benennen wir mit unseren Gefühlen den Zustand, den Emotionen in uns auslösen – und wie wir diesen bewusst erleben: „Ich fühle Traurigkeit.“ – „Ich fühle mich wütend, mein ganzer Körper zittert.“ Gefühle können länger anhalten und unser Gemüt stärker beeinflussen, da wir über Erinnerungen und Gedanken die gefühlten Zustände aufrechterhalten.
In meiner Jahresgruppe Das erwachte Herz tauchten kürzlich zwei sehr bewegende Themen auf: Schuldgefühle beim Für-sich-Einstehen und Scham bei starker Wut. Viele kennen diese Verknüpfung. Wut ist eine kraftvolle Emotion – doch sobald sie sich zeigt, schwingt oft Scham oder das Gefühl von Ohnmacht mit.
Wut, Scham und der Weg zur Selbstbestimmung
Spürst du oft starke Wut, die gleichzeitig mit Schamgefühlen oder Ohnmacht verbunden ist? Genau hier liegt ein entscheidender Punkt: Wut kann dich in Kontakt bringen mit deinem tiefsten Bedürfnis nach Selbstbestimmung.
Für eine gesunde Selbstentwicklung brauchen wir Freiheit, Kontrolle, Autonomie – und damit Selbstbestimmung. Werden diese Grundbedürfnisse frustriert, erleben wir Fremdbestimmtheit,
Ausgeliefertsein, Ohnmacht und Hilflosigkeit breit.
Wachsen wir mit emotional reifen Bezugspersonen auf, die unsere Bedürfnisse nach Bindung, Akzeptanz, Sicherheit, Autonomie und dem freien Ausdruck von Gefühlen sehen, entsteht ein gesundes
Selbstgefühl. Wir lernen: Ich darf sein. Ich bin autonom, verbunden und wirksam.
Werden diese Bedürfnisse jedoch übergangen oder abgewertet, erfahren Kinder sehr früh Scham:
- wenn Gefühle belächelt oder klein gemacht werden,
- wenn wir bestraft, bloßgestellt oder gedemütigt werden,
- wenn Bedürfnisse nicht ernst genommen oder zurückgewiesen werden.
Scham schneidet uns von unserem natürlichen Ausdruck ab. Besonders im Zusammenhang mit Wut führt das dazu, dass wir diese kraftvolle Emotion als „gefährlich“ oder „falsch“ erleben – und uns selbst dafür abwerten.
Bedrohte Autonomie in der Kindheit
Eine Bedrohung der Autonomie in der Kindheit bedeutet, dass unsere Entscheidungsfreiheit und unser Selbstausdruck eingeschränkt wurden. Nicht wir bestimmen – es wird über uns bestimmt.
„Ich darf nicht tun, was ich brauche.“ „Ich darf nicht sein, wer ich bin.“
Diese Frustration der Autonomie ist oft mit unterdrückter Wut verbunden, die später durch bestimmte Situationen getriggert wird.
Wut als Lehrerin
Wut ist nicht dein Feind. Sie zeigt dir, wo Grenzen verletzt wurden und welche Bedürfnisse keinen Raum hatten. Wenn du lernst, sie anzunehmen, wird sie zur Lehrerin: für deine
Selbstbestimmung, für deine Klarheit und für deine innere Stärke.
Praktische Wege im Umgang mit Wut
Wenn Wut dich überflutet, kannst du lernen, zwischen Verstehen, Selbstregulation und der achtsamen Erfüllung deiner Bedürfnisse zu pendeln.
Hilfreich sind diese drei Fragen:
- Was braucht die Wut jetzt von mir?
- Welche Botschaft trägt sie für mich?
- Wohin möchte sie mich bewegen?
Im Zustand der Aktivierung finde zuerst einen Weg, dich zu beruhigen – etwa durch achtsames Innehalten, Selbstfürsorge, Spazierengehen oder kognitive Distanzierung. Erkenne, dass Wut nicht „schlecht“ oder „unangemessen“ ist, sondern eine zutiefst menschliche Reaktion auf Verletzung, Entwertung oder Missachtung deiner Grenzen.
Fragen zur Selbstreflexion können dir helfen, den Kern deiner Emotion zu verstehen:
- Unter welchen Umständen ist die Wut aufgetaucht?
- Wer war anwesend? Wo im Körper war sie spürbar?
- Kennst du dieses Gefühl aus der Vergangenheit?
- Welches Bedürfnis wurde in der Kindheit übergangen?
- Welche Grenzen wurden überschritten, die mit dem Gegenwartserleben in Verbindung stehen?
Das Anerkennen dieser Zusammenhänge ist der erste Schritt zur Selbstachtung.
Emotionale Reifung und Selbstbestimmung
Nach der mitfühlenden Versorgung folgt die Wiedergewinnung deiner Integrität, Grenzen und Grundbedürfnisse – all dessen, was als Kind keinen Platz hatte. Das übernimmt dein bewusstes, liebevolles
Selbst: dein erwachsener Anteil.
Und das kannst du täglich üben:
- Führe ein Gefühlstagebuch.
- Werde dir bewusst, dass du gelernt hast, deine Bedürfnisse zu unterdrücken.
- Erkunde dein Selbst im sicheren Bindungsraum mit Menschen, die dich lieben, so wie du bist.
- Lerne, auszusprechen, was du wirklich brauchst.
- Erinnere dich: Jede Veränderung braucht ein Nein zum Alten. Es ist ungewohnt, wenn du beginnst, dort Nein zu sagen, wo du früher Ja gesagt hast.
- Denke daran: Wut möchte deine Selbstbestimmung zurück.
Grenzen setzen bedeutet auch, dir selbst treu zu bleiben. „Reparenting“ mit dem inneren Kind ermöglicht dir, die Emotionen, die in der Kindheit zurückgehalten wurden, zu heilen und in dein erwachsenes Selbst zu integrieren.
Fazit: Wut als Tor zu Klarheit und Selbstachtung
Wenn wir lernen, Wut achtsam zu verstehen, öffnet sie uns Wege zu Selbstbestimmung, Klarheit und innerer Stärke. Sie erinnert uns daran, dass wir Grenzen haben und dass unsere Bedürfnisse wichtig sind. Wut, sanft begleitet und bewusst reflektiert, kann sich wandeln – in Klarheit, innere Stärke und den Mut, deinen Weg authentisch zu gehen.
Deine Wut ist nicht gegen dich – sie erinnert dich an dein Geburtsrecht, an deine Autonomie und Selbstbestimmung.
Liebe heilt. The Gentle Way
Sabina
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