Die ganze Fülle des Augenblicks leben

 

Ich habe die letzen Monate sehr ruhig verbracht und habe mich bewusst mehr aus den sozialen Medien zurückgezogen. Die Ablenkung der Informationsflut, die uns die heutige Welt bietet ist verführerisch. Sie lenkt uns vom Wesentlichen ab und damit von uns selbst und der Erfahrung des Augenblicks. Die Dauerberieselung fordert über kurz oder lang ihren Tribut.

Jon Kabat Zinn, der Ur-Vater des MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) bringt es auf den Punkt: wir sind permanent dabei, das nächste Ziel zu erreichen und wenn wir da sind, sind wir nicht wirklich präsent im Moment, im Hier und Jetzt. Wir sind überall aber nicht in der vollständigen und bewussten Erfahrung der Gegenwart, so wie sie ist. Als er gefragt worden ist, ob er an ein Leben nach dem Tod glaubt, antwortete er: "The question is, how awake I am in the present moment." / "Mich interessiert vielmehr die Frage, wie wach bin ich im gegenwärtigen Augenblick."  – Mit "wach" meint er ein tieferliegendes und jedem Menschen zugängliches Potenzial der eigenen bewussten Präsenz und das absichtsvolle Schauen aus einem höheren Bewusstsein, was frei ist von Urteil und Wertung – das, was annimmt und sich liebevoll der Erfahrung an sich in größter Hingabe zuwendet.

 

Je länger ich mich in der Tiefe mit der menschlichen Psyche, mit Meditation, Achtsamkeit und den neurologischen Grundlagen unseres Gehirns befasse, umso mehr erkenne ich die subtilen Mechanismen, die unbewusst greifen. Uns im ganzen zu kennen und besser zu verstehen, bedeutet unseren Einflussbereich zu vergrößern. Üben wir uns auf dem Weg in die Befreiung, den Geist in der Meditation und diese wandelnden Phänomene aus dem Raum des Bewusstseins zu beobachten, lassen wir uns im alltäglichen Leben schnell davon wegtragen. Kaum dass wir das Sadhana, die spirituelle Praxis oder unser Meditationskissen verlassen haben, beginnt der Strom der Gedanken, der mentalen Widerstände, der Likes und Dislikes, der Begierde, der Ablehnung und der Identifikationen mit einem Ich, welches die Erfahrungen macht.

Praktiziere ich Akzeptanz und Wertschätzung im Augenblick, dann ist da kein Raum für Kampf oder Widerstand, der Leiden entstehen lässt und vergrößert. Wenn ich mir erlaube, mich auf den gegenwärtigen Augenblick einzulassen und ich still werde, öffent die Gnade eine Tür zu meinem Herzen. Und plötzlich fühle ich die ganze Fülle des Lebens, die mich liebevoll abholt und alles einlädt.

Das Awakening – die Erleuchtung – ist eine Seinsqualität, in der ich von Augenblick zu Augenblick mit dem eigenen Herzen und einem reinen Gewahrsein in Verbindung bin. "Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser tragen. Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser tragen." ist ein Satz aus dem Zen-Buddhismus. Das Leben vor und nach der Erleuchtung bleibt das gleiche. Was sich verändert ist der "Platz" von dem aus ich das Leben lebe und das verändert alles.

Wir brauchen die tägliche spirituelle Praxis, das tägliche Innehalten, das mentale und emotionale Detoxing. So können wir die "Ressource" der Achtsamkeit – was vielmehr eine Seinsqualität, ein bewusstes Sein ist – in das eigene Leben einladen und uns mit einer tieferliegenen Essenz verbinden und aus ihr leben. Aus der Präsenz des bewussten Seins, haben wir mehr Raum für eine Neubestimmung einer Situation und damit auch mehr Wahlmöglichkeiten. Sind wir mental im Überlebensmodus, können wir keine guten Entscheidungen treffen. Die innere Stimme der Führung meldet sich nicht im tosenden Lärm und dem Rausch von Gedanken und Geschichten, die ein unruhiger Geist produziert.

Regelmässiges Gebet, Psychohygiene, Selbstreflexion, Meditation, Achtsamkeit usw. geben uns Richtung, Kraft, Energie, Licht und innere Nahrung damit das innere Lot ausgerichtet und das Herz in Fülle lebt. Die innere Befreiung kann uns keiner geben, ausser wir uns selbst. Dann können wir auch aus der ganzen Fülle des Lebens im Moment, in der Gegenwart so viel er-leben, dass es nicht viel von außen braucht.

 

Mögen alle Menschen ihre inneren Quellen und Früchte der Liebe in sich finden.

Für eine besser Welt für uns alle.

 

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